Gedanken und Gedenken – ein Text von Kathrin Bochnia 09.03.22 Jeden Morgen ist mein erster Gedanke, ob Kyjiw noch steht und Zelenskyy noch lebt. Jeden Morgen erfahre ich von einer neuen Grausamkeit, die der Wahnsinnige sich gewagt hat. Jeden Morgen Gedanken und Gedenken. An die Kinder, Senior:innen und alle Menschen, die in Unterschlüpfen aufwachen und einen weiteren Tag lang Luftalarme und Bombeneinschläge hören. Kinder die verstummt und traumatisiert sind und ihren Papa vermissen. An die getrennten Familien, die Väter, Partner, Söhne, Brüder, die tapfer ihr Land, ihre Mitmenschen und ihr Leben verteidigen. An Kinder wie Mia, die in U-Bahnhöfen geboren werden, ein neues Leben, während ein anderes im Freiheitskampf stirbt. An die Menschen, die für ihre Liebsten beten und hoffen, dass sie noch leben und dass sie sie nochmal werden wiedersehen. An die ganzen Opfer, deren Zahl immer weiter steigt und immer weiter steigen wird, wenn nichts passiert. An den Autofahrer, der aus Spaß, Langeweile oder purer Mordlust von einem Panzer überfahren wurde, und wie es ihm geht. An die Babys auf den in Keller und Bunker verlegten Neointensivstationen ohne entsprechende Ausrüstung. An die Patient:innen auf Krebs- oder anderen Stationen von Krankenhäusern, ohne entsprechende Medikation und Versorgung, teilweise dafür aber Ziel der Invasion. An die 1000 Nicht-Ukrainer:innen, die für dieses Land gegen Putins Truppen kämpfen. An die, die sich mit bloßen Händen und Worten zur Wehr setzen, weil sie an Freiheit, an europäische Werte glauben und auf Frieden hoffen. Und dafür einstehen, gegen Soldaten, die desinformiert sind und denken, dass sie für eine Übung verlegt werden, die geblendet worden sind von ihrem eigenen Präsidenten. An diejenigen, die diesen Krieg nicht wollen. An die Soldaten, die auf ihre eigenen Brüder und Schwestern zielen müssen und die russischen Bürger:innen, die für ein Ende dieses Krieges demonstrieren, trotz der Gefahr bis zu 15 Jahren inhaftiert zu werden auf den Straßen und in den Medien Russlands protestieren. An die Opfer der Fake News, die verbreitet werden, der Lügen Putins. Vom Genozid an ethnischen Russen, während russische Bomben Wohnblocks zerstören. Von der Entnazifizierung, während die frei gewählten Regierungsvertreter gemeinsam mit dem Mann an der Spitze, dessen jüdische Familie teilweise den Nazis zum Opfer fiel, in Kyjiw bleiben und sich dem entgegensetzen. Von der Entmilitarisierung, obwohl die Ukraine seit dem Budapester Memorandum von 1994 keine Atomwaffen mehr hat, im Austausch gegen Sicherheitsgarantien, quasi die Anerkennung ihrer Souveränität durch Russland. Die Souveränität, die jetzt so wie schon seit 2014 mit russischen Panzern, Raketen und einem 64 km langen Konvoi bedroht wird. An die Menschen, die den für Brutalität bekannten tschetschenischen Kämpfern in ihrer Mordlust oder ihren Vergewaltigungen zum Opfer fallen. An einen möglichen dritten Weltkrieg, die Sorge um eine atomare Katastrophe, die Sorge, dass es nicht nur bei der Ukraine bleibt. Das Empfinden von Ungerechtigkeit, dass die Ukraine nicht in der EU und der NATO und stattdessen im Gefecht als Spielball zwischen Ost und West auf sich allein gestellt ist. An das Leid, das auch noch nach Putins Angriffskrieg herrschen wird. Der Gedanke an die zerstörte Infrastruktur und wie lange die Ukraine brauchen wird, wieder auf die Beine zu kommen. Der Gedanke an die zerstörten Zuhause, mit allen Erinnerungen zurückgelassen, verlassen, zerbombt. An die Erschöpfung von kilometerlangen Märschen zur Grenze und kilometerlangen Schlangen an Checkpoints, vor Bankautomaten und Einkaufsläden. An die gefährdete Demokratie in der Ukraine und überall auf der Welt, durch Autokraten und Rechtspopulisten. An die, die verängstigt sind, sich gegen die russische Invasion und den russischen Wahnsinnigen aufzulehnen und den Mut haben, es trotz aller Konsequenzen trotzdem zu tun, aus Glaube und um es mit den Worten unserer Außenministerin zu sagen: aus „Hoffnung [auf] ein Recht auf Demokratie, ein Recht auf Frieden und auf eine bessere Zukunft ohne Unterdrückung“. Weil genau dieser Traum nicht zerstörbar ist. Auch nicht durch einen Wahnsinnigen, einen Mörder und Kriegsverbrecher namens Wladimir Putin. Ja, wir sind vor 8 Tagen in einer anderen Welt aufgewacht. In einer Welt, in der ich mich nun über taktische und strategische nukleare Waffen informiere, und das Privileg, davon bisher keine Ahnung gehabt zu haben, noch mehr schätze. In einer Welt, in der Gespräche darüber, wo man selbst Schutz suchen oder hin fliehen würde, wenn der Nato-Bündnisfall eintritt, im Supermarkt, beim Friseur, bei der Physiotherapie und hier, mitten im Stadtzentrum unserer Stadt, mitten in einem westlichen, demokratischen, freien Deutschland geführt werden. Jeden Morgen der Gedanke daran, wie schlimm Menschen sein können und wie fragil unsere Freiheit und Lebensrealität ist. Und jeden Abend Demos wie diese, die zeigen, wie gut Menschen sein können, wie groß unsere Solidarität und unser Zusammenhalt ist. Jeden Morgen. Jeden Mittag. Jeden Abend. Jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend der Gedanke, ob Kyjiw noch steht und Zelenskyy noch lebt. Jeden Morgen die Information, dass Kyjiw noch steht und Zelenskyy noch lebt. Aber wie lange noch? Während bei mir noch immer die Heizung läuft, so wie auch das Radio, Tagesschau24 und Welt im Wechsel. Ich darf hier stehen und meine Meinung sagen. Ich höre Vogelgezwitscher und keine schreienden und weinenden Menschen. Ich höre den Wind durch Bäume wehen, anstelle von Raketeneinschlägen. Ich sehe wie morgens die Sonne aufgeht, den Himmel in ein Rosarot taucht, während die Sonne knapp 2.000 km weiter östlich aufgeht und das Blutrot auf den Straßen offenbart. Ich sehe, wie der rosarote Sonnenaufgang einem blau-gelben Himmel weicht. Die Farben Europas, die Flagge der freien demokratischen und westlichen Ukraine an unserem Himmel, seit 8 Tagen. Jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend. © Kathrin Bochnia, 04.03.2022 (Dieser Text ist eine Rede von der Friedenskundgebung in Langenfeld am 04. März 2022)